Am 8. Mai bot sich auf dem Frankfurter Opernplatz ein buntes Bild der Solidarität: hunderte waren dem Aufruf gefolgt, den 75. Jahrestag der deutschen Kapitulation zum Tag der Entnazifizierung zu machen. Insbesondere wurde den Opfern rassistischer Morde gedacht. Organisiert wurde das Gedenken von Initiativen von BIPoC-Personen (Black, Indigenous, People of Color) und migrantisierten Menschen, die sich unter dem Namen #migrantifa nach dem rassistischen Anschlag vom 19. Februar in Hanau gegründet hatten. Der Platz wurde mit Kreide bemalt und beschrieben; dabei wurden wichtige Hygienemaßnahmen wie Mundschutz und Abstandsgebot eingehalten.
Einen Tag später ein gänzlich anderes Bild: mehrere hundert Menschen zogen im Regen zwischen Hauptwache, Alter Oper und Paulsplatz durch die Frankfurter Innenstadt. Mit dabei: Heidi Mund, die einstige Fragida-Organisatorin, Henryk Stöckl, bekannter rechter YouTuber, und Carsten Härle, extrem rechter AfDler aus Heusenstamm. Zwischenzeitlich wird die schwarz-weiß-rote Fahne des Deutschen Kaiserreichs geschwenkt, Heidi Mund setzt sich ohne Widerspruch auf der Zeil an die Spitze der Demonstration. Schon vor einigen Wochen hatte Henryk Stöckl begonnen, auf dem Opernplatz „gegen Coronaverordnungen“ zu demonstrieren. Damit war er einem Aufruf der Heidelberger AfD-nahen Anwältin Beate Bahner gefolgt.
Verabredet waren die Demonstrierenden eigentlich zu einem „Hygiene-Spaziergang“ gegen die Einschränkungen des öffentlichen Lebens durch die Corona-Pandemie. Ihre Motivation ist oft verschwörungsideologisch begründet: auf Schildern steht „Gib Gates keine Chance“ oder es ist von einer „Corona-Diktatur“ die Rede, auf T-Shirts wird vor einer vermeintlichen Impfpflicht gewarnt.
Die Teilnehmenden organisieren sich meist über Telegram-Gruppen und -Kanäle oder beziehen sich auf andere Online-Aufrufe. Sie finden sich seit einigen Wochen in verschiedensten Städten zu themenbezogenen Versammlungen, wie z.B. den „Hygiene-Spaziergängen“ zusammen. Diese sind faktisch nichts weiter als unangemeldete Versammlungen. Dort kommt ein breites Spektrum von Verschwörungsideolog*innen oder dafür offene Personen zusammen – außerdem treten dort offen Neonazis auf.
Die Anwesenheit von extrem Rechten ist daher kein Zufall, sondern Konsequenz des verschwörungsideologischen Denkens. Rechtes Gedankengut, Antisemitismus und Rassismus gedeihen gut auf dem Boden von antimodernem und antiaufklärerischem Denken sowie irrationalen und oft mit Halbwissen gemischten Vermutungen einer Weltverschwörung. Im Internet angeeignete Ideen und Theorien finden rechtsaußen Bestätigung und Zuspitzung. Die nun vermeintlich „Eingeweihten“ treten mit einem Gefühl von Erkenntnis und Erhabenheit in die Öffentlichkeit, wo sie auf derartigen „Spaziergängen“ auch noch Bestätigung erfahren. In der Folge entstehen nicht nur Subkulturen, die Angst vor Kondensstreifen am Himmel haben, sondern auch Gruppen, die beispielsweise von einer jüdischen Weltverschwörung ausgehen und rassistisches Gedankengut verbreiten. Es überrascht also nicht, dass an den Versammlungen gewaltbereite Neonazis und Hooligans teilnehmen und dabei Gegendemonstrant*innen oder andere Menschen, welche nicht in ihr Weltbild passen, auch tätlich angegangen werden.
Verschwörungsideologien sind kein neuer Müll auf der Deponie der Geschichte. Sie existieren bereits seit dem Mittelalter. Ihre einfachen Wahrheiten für komplizierte Vorgänge verschaffen ihnen besonders in Krisenzeiten Beliebtheit und vermehrt Anhänger*innen.
Ereignisse, die die breite Masse beschäftigen, sowie Ängste, den Wunsch nach Handlungsfähigkeit und dem Gefühl der Normalität hervorrufen, werden gezielt zur Verschwörung umgedeutet.
Hier knüpfen die Protagonist*innen von Hetze und Angst an und schüren Hass gegen die vom Staat ergriffenen Maßnahmen. Denen versuchen sie sich durch Provokationen, wie das Treffen in Massen ohne Mundschutz und Abstandsregelungen, entgegenzusetzen. Die Themen, die als Illusion von Gefahr herbeigezogen werden, sind sehr vielfältig und nahezu beliebig. Eine vermeintliche Impfpflicht, fälschlich behauptete Gefahren schnelleren Internets (5G), die angebliche Fabrikation von CoViD-19 als Biowaffe, Ideen der Reichsbürgerbewegung – diese Themen mischen sich zu einem verschwörungsideologischen Geraune, das einen nicht existenten Feind beschwört; ein Versuch, um möglichst viele kontrafaktische Steigbügelhalter*innen hinter sich zu vereinen.
Eskalative Polizeieinsätze wie bei der Seebrücken-Demonstration am 5. April oder dem 1. Mai zeigen klar auf, dass die Einschränkungen des öffentlichen Lebens und der Freiheitsrechte während der CoViD-19-Pandemie bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung großer Teile der Wirtschaft im Sinne der Kapitalinteressen kritisch zu beobachten sind. Die Notwendigkeit von Solidarität mit Betroffenen und besonders gefährdeten Gruppen der Corona-Krise ist jedoch keine Verschwörung.
Während die derzeitigen Beschränkungen große Schwierigkeiten für viele Teile der Gesellschaft bedeuten, seien es Familien mit jungen Kindern oder ältere Menschen, so ist die Lösung aus dieser Überforderung und Ohnmacht nicht das Abdriften in abstruse Weltbilder auf der Suche nach Halt.
Dabei werden die zumeist unfreiwilligen Held*innen dieser Krise, die als Arbeitskräfte gerade in Krankenhäusern und anderen „systemrelevanten“ Bereichen weiter ausgebeutet werden hintergangen, wobei gerade sie die meiste Solidarität und Unterstützung benötigen.
Ein Umgang mit der Krise und den einhergehenden Ohnmachtsgefühlen kann nur in einer konstruktiven und solidarischen Selbstorganisierung gefunden werden, die Betroffenen und besonders Gefährdeten hilft und gleichzeitig bestehende sozioökonomische Gräben in konkreter Solidarität zu überbrücken sucht.
Sei es in Nachbarschaftsnetzwerken oder über private Kontakte, durch Transparente und Schilder, es gibt Gründe weiterhin auf die Straße zu gehen: Höhere Löhne für Beschäftigte im Gesundheitswesen, grenzenlose Solidarität, gegen rechte Vordenker*innen und Nazis, die die aktuelle Krise zum Instrument ihrer faschistischen Ideologien zu nutzen versuchen.
Trotz Mundschutz und Abstand, lassen sich so gesellschaftliche Solidarität und ein Ausweg aus der gefühlten Ohnmacht verwirklichen.